"Ich liebe Krisen"

Börsen-Zeitung, 18 September 2020, Interview by Sebastian Schmid

Sprecher des VW-Nachhaltigkeitsbeirats erwartet, dass die Probleme der Autoindustrie ihren Wandel treiben

„Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass Krisen die beste Gelegenheit sind, Wandel im Unternehmen schnell voranzutreiben.“ Georg Kell

„Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass Krisen die beste Gelegenheit sind, Wandel im Unternehmen schnell voranzutreiben.“ Georg Kell

Georg Kell ist gerade für zwei weitere Jahre an die Spitze des Nachhaltig- keitsbeirats von Volkswagen bestellt worden. Der Mitgründer mehrerer Nachhaltigkeitsinitiativen der Ver- einten Nationen, darunter des UN Global Compact, trifft eigentlich ger- ne Menschen. In der Coronakrise ist das natürlich seltener der Fall. Den- noch kann er der Situation durchaus etwas abgewinnen. „Ich liebe Kri- sen“, erklärt Kell. „Meine Erfahrung aus 20 Jahren Arbeit mit verschiede- nen Führungskräften hat mir gezeigt, dass Krisen die beste Gelegenheit sind, Wandel im Unternehmen schnell voranzutreiben.“ Das sei auch ein Grund gewesen, warum er sich schnell bereit erklärt habe, in den Nachhaltigkeitsbeirat bei Volkswa- gen zu gehen.

Der Anfang sei dabei nicht einfach gewesen. Der Diesel-Skandal sei damals auf seinem Höhepunkt gewe- sen. Der Nachhaltigkeitsbeirat habe sich dann zweimal im Jahr mit dem Vorstandsvorsitzenden – zunächst Matthias Müller, später dann Herbert Diess – sowie dem Vorstand zu einem intensiven Austausch getroffen. Dabei habe der Beirat von Anfang an drei klare Forderungen gestellt. Die erste sei eine Beschleunigung der Entwicklung hin zu E-Mobilität gewesen. Ein zweiter Punkt war die Forderung nach einer proaktiven Hinwendung zu Regulierungszielen statt eines Bekämpfens oder versuch- ten Umgehens von Regulierungsvor- gaben. Drittens sollte es einen Kul- turwandel im Unternehmen geben.

Mehr Tempo dank Diess

Der ehemalige CEO Müller habe zwar begonnen, die Themen anzuge- hen. Es habe damals aber auf vie- len Ebenen noch unheimlich viele Widerstände gegeben. „Dann kam Herbert Diess und damit viel frischer Wind.“ Die Elektrifizierung habe unter dem neuen Chef noch einmal deutlich Geschwindigkeit aufgenom- men. Zudem sei die Dekarbonisie- rung jetzt auch in der Führungsebene als zentrales strategisches Element verankert. Das zeige sich an zahlrei- chen Stellen – von den Lieferketten

bis zu der Umstellung der unterneh- menseigenen Kraftwerke in Wolfs- burg von Kohle- auf Gasverstro- mung.

Der Wandel von innen heraus sei immer der Schwierigste. Unterneh- men seien unter normalen Bedingun- gen kaum bereit, ihre Grundausrich- tung zu ändern. „Jede Krise ist eine wundervolle Chance, die man nicht vergeuden sollte“, ist Kell daher überzeugt. Er habe drei Grundsätze für den Umgang mit Krisen: „Schaue dir das Kernproblem genau an, auch wenn es schmerzhaft ist. Ziehe deine Lehren daraus und nutze diese, um das Unternehmen stärker zu machen.“ Ein wesentlicher Faktor sei dabei allerdings auch die Zeit. Und da habe Volkswagen am Anfang sicher einiges liegen lassen. „Das ist aber auch Teil des Lernprozesses.“

Eine der größten Herausforde- rungen für Volkswagen sei, wie ein Industriekonzern aus sich heraus den Unternehmergeist einer Softwarefir- ma entwickeln könne. Problematisch sei für deutsche Industrieunterneh- men schon allein, mit den Gehältern, die Firmen wie Apple, Google oder Microsoft zahlen, mitzuhalten. In Deutschland seien die Möglichkeiten aufgrund der Tarifverträge oft etwas begrenzter. Die Gründung der eige- nen Car.Software.Org soll da mehr Flexibilität bieten und helfen, den „Rückstand auf Tesla“ aufzuholen, der zuletzt immer wieder offenbar wurde. In den vergangenen zwölf Monaten hatten zahlreiche Soft- wareprobleme bei den beiden wichti-

„Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass Krisen die beste Gelegenheit sind, Wandel im Unternehmen schnell voranzutreiben.“

Georg Kell

gen Modellen ID3 und Golf 8 den Volkswagen-Konzern zurückgewor- fen. Christian Senger, als Chef der ausgegliederten Software-Tochter nach Wolfsburg geholt, verlor seinen Posten an den ehemaligen BMW-Ma- nager Dirk Hilgenberg. Damit wächst der Einfluss der Ex-BMWler in Wolfs- burg. Auch der neue Audi-Chef Mar- kus Duesmann und Konzernchef Diess wechselten von dem Münche- ner Autobauer zu Volkswagen.

Dass die Coronavirus-Pandemie und die damit verbundene Wirt- schaftskrise dazu führen könnten, dass Nachhaltigkeitsthemen wieder an Bedeutung verlieren, glaubt Kell nicht. Er ist sogar vom Gegenteil überzeugt. „Viele Investoren verste- hen durch die Krise viel besser, dass man auch Zukunftsrisiken, die heute noch nicht voll eingepreist sind, berücksichtigen sollte.“ Wer nicht vorbereitet sei, drohe im Ernstfall unterzugehen. Das Interesse an wis- senschaftsbasierten Nachhaltigkeits- zielen habe seit Ausbruch der Pande- mie weiter zugenommen.

Bei Investoren angekommen

Das liege auch daran, dass die Investorengemeinde dem Thema deutlich mehr Aufmerksamkeit wid- me. Volkswagen habe schon Monate vor der Ausgabe des ersten Green Bond (siehe Artikel auf dieser Seite) ein Rahmenwerk für grüne Finanzie- rungen entwickelt. „Wegen Corona und Marktvolatilität hat sich der ers- te Climate Bond etwas verzögert“,

erklärt Kell. Angesichts der hoch attraktiven Konditionen, die Volks- wagen wie kurz zuvor auch Daimler erzielt hat, und des hohen Investi- tionsbedarfs in nachhaltige Techno- logie ist zu erwarten, dass in den kommenden Monaten und Jahren eine ganze Reihe grüner Finanzie- rungen für die Unternehmen der Automobilbranche anstehen. Auch Kell glaubt dies mit Blick auf VW. Noch vor wenigen Jahren wäre ein vergleichbares Produkt kaum hono- riert worden, ist er sicher. „Die Finanzwelt hat die Materialität der nichttraditionellen Faktoren erst ab ca. 2014 erkannt“, erinnert sich Kell. Das habe dazu geführt, dass das The- ma auch in den Unternehmen als strategische Führungsaufgabe ange- sehen und vollständig integriert wur- de – „im Finanzwesen, im Personal- management, im Produktdesign usw.“. Zuvor sei es über Jahre in vielen Unternehmen primär als PR- Thema betrachtet worden.

„Dank Digitalisierung und künstli- cher Intelligenz ist es immer leichter, billiger und robuster nichttraditio- nelle Faktoren in Investitionsprozes- sen und -entscheidungen mit einflie- ßen zu lassen“, erklärt Kell den Sin- neswandel auch mit den technischen Möglichkeiten. Das Erfassen zahlrei- cher ESG-Daten (Environment, Soci- al, Governance) in Echtzeit habe dies erst möglich gemacht. Mit diesen Themen befasst sich Kell, wenn er gedanklich nicht gerade bei Volkswa- gen weilt. „Etwa 50% meiner Arbeits- zeit befasse ich mich mit VW, den Rest widme ich Arabesque.“ Der deutsch-englische Vermögensver- walter, bei dem Kell Chairman ist, zählt drei Geschäftssparten, die alle- samt auf ESG-Themen abstellen. So ermittelt die Tochter Arabesque S-Ray mit Sitz in Frankfurt mit Hilfe von Big-Data-Analysen und künstli- cher Intelligenz, wie es um die Nach- haltigkeit von Unternehmen bestellt ist. Zuletzt hatten sich Helaba Digital und Allianz X an dem Start-up betei- ligt. Im Assetmanagement, das noch im Aufbau sei, wird laut Kell ein mitt- lerer dreistelliger Millionenbetrag gemanagt. Arabesque AI, der dritte Geschäftszweig, unterstützt Invest- mententscheidungen mit künstlicher Intelligenz und berücksichtigt dabei ESG-Kriterien.