"Die Pandemie hat zum Nachdenken angeregt"

“Lifetime Achievement CSR Award”: Der frühere UN-Manager Georg Kell über den Einfluss von Covid-19 auf die Nachhaltigkeitsbewegung und modernes Responsible Leadership

Verantwortung- Das Magazin für Nachhaltigkeit, CSR und innovatives Wachstums, Ausgabe 04 2020

Die Fragen wurden von Oliver Kauer-Berk gestellt

Screen Shot 2020-10-26 at 2.51.22 PM.png

V Herr Kell, lassen Sie uns mit einer grundsätzlichen Frage einsteigen: Was verstehen Sie unter Nachhaltigkeit aus Unternehmenssicht?

Vereinfacht gesagt, bedeutet Nachhaltigkeit aus Sicht eines Unternehmens, langfristig erfolgreich zu sein, basierend auf der Maxime, negative soziale, umweltbezogene und wirtschaftliche Auswirkungen zu minimieren und positive zu maximieren. Das mag banal klingen, aber um dies zu erreichen, muss ein Unternehmen die Fähigkeit haben, Veränderungen in den politischen, technologischen, wirtschaftlichen, umweltspezifischen sowie sozialen Rahmenbedingungen rechtzeitig zu erkennen und proaktiv Strategien zu entwickeln und auch umzusetzen. Da sich der Wandel in unserer Zeit in vielen Bereichen beschleunigt, ist das eine große Herausforderung. Beim Klimawandel bedeutet das zum Beispiel, Dekarbonisierung zu forcieren und Umwelt- und Klimapolitik zu unterstützen, anstatt sie zu blockieren. Am Beispiel Technologie und Sozialverhalten bedeutet das, Innovationsfähigkeiten zu stärken und sich sozialverträglich zu positionieren. Praktisch gesehen muss also Nachhaltigkeit in allen Entscheidungs- und Ablaufprozessen fest verankert werden.

V In einem Beitrag für das englischsprachige Wirtschaftsmagazin Forbes schrieben Sie im April 2020: „The sustainability movement will gain further relevance in the post-Covid-19 era“. Was macht Sie zuversichtlich?

Keine Frage, Covid-19 gibt der Nachhaltigkeit einen großen Schub. In der Finanzwelt beginnt man jetzt endlich, Klimarisiken und Klimawissenschaft ernst zu nehmen, selbst wenn die Preissignale diese Risiken gegenwärtig noch nicht reflektieren. Warum? Weil die Pandemie gezeigt hat, dass es eventuell eine Frage des Überlebens sein kann, dass man vorbereitet ist. Die Pandemie hat das Dilemma der „Tragödie des Zeithorizonts“ in der Finanzwelt zumindest teilweise aufgehoben. Die Perspektiven für langfristige Risiken haben sich verändert. Der Beweis ist übrigens schon da: ESG-Investitionsstrategien steigen stark an, gerade während der Pandemie. Auch bei Unternehmen hat die Pandemie als Beschleuniger für Automatisierung, Digitalisierung und Dekarbonisierung gewirkt. Zum Beispiel hat die weltweit führende Initiative Science Based Targets (gibt Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen vor, Anm. d. Red.) seit Ausbruch der Pandemie den größten Zuwachs an neuen Mitgliedern in ihrer fünfjährigen Geschichte erlebt. Das ist kein Zufall. Unternehmen verstehen, wo der Zug hinfährt. Die Pandemie hat den Blick für die Zukunft und die Bereitschaft gestärkt, die gegenwärtige Krise zu nutzen, um besser für künftige Krisen gewappnet zu sein. Eine Krise bietet ja auch immer die Möglichkeit, Strukturveränderungen umzusetzen, was unter normalen Bedingungen viel schwieriger wäre. Was mich ebenfalls optimistisch stimmt: In Europa wird mit dem „Next Generation“-Aufbauplan die zentrale Bedeutung der Zusammenarbeit wiederentdeckt und Zukunftsthemen wie Digitalisierung und Dekarbonisierung werden massiv vorangetrieben. Das bietet neue Möglichkeiten für Innovation und öffentlich-private Zusammenarbeit. Auch in den USA ist eine Veränderung möglich. Sollte Joe Biden die Wahl im November gewinnen und seinen Zwei-Milliarden-Dollar-Klimapakt umsetzen, dann wird dies auch weltweit einen großen Impuls für Dekarbonisierung bedeuten.

V Besteht in der Covid-19-Pandemie nicht die Gefahr einer monozentrierten Aufmerksamkeit, so dass manche Aspekte nachhaltigen Denkens vernachlässigt werden?

Diese Gefahr besteht immer bei kurzfristig denkenden Entscheidungsträgern. Das ist oft der Fall in der Politik, wenngleich weniger in Deutschland und vor allem weniger in der Wirtschaft, wo langfristiges Denken zum Glück immer noch von großer Bedeutung ist. Insgesamt hat die Pandemie Menschen zum Nachdenken angeregt. Man versteht jetzt besser, wie verletzlich wir sind und wie wichtig eine gesunde Umwelt ist. Ich hoffe auch, dass gesellschaftliche Grundwerte wieder gestärkt werden. Die Querverbindungen sind offensichtlich. Wir haben jetzt die Chance, etwas vernünftiger und zukunftsorientierter zu handeln. Mir ist natürlich bewusst, dass der Mensch sich nur ungern verändert, es sei denn, er wird dazu gezwungen, und leider ist es auch so, dass wir wenig aus der Geschichte lernen. Es gibt aber viele Anzeichen, dass die Stimme der Vernunft und langfristiges Denken durch die Pandemie gestärkt werden, was uns wiederum die Chance bietet, zu lernen. Die Frage, wie lernfähig wir sind, ist in der Tat ausschlaggebend. Diese Themen werden im Detail in dem in diesen Tagen erscheinenden Buch „Sustainable Investing – A Path to a new Horizon“ analysiert, das ich als einer der Herausgeber mitgestaltet habe.

V Welche neuen Anforderungen werden in puncto Nachhaltigkeit in den nächsten Jahren auf international agierende Unternehmen zukommen?

Die politischen Rahmenbedingungen haben sich schon verändert, und wie man mit den wachsenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China umgeht, wird wohl ein zentrales Thema werden. Menschenrechtsfragen werden politisiert werden. Gerade für europäische Unternehmen wird das eine große Herausforderung werden. Eine Stärkung Europas als unabhängige Kraft wird hoffentlich ein Teil der Antwort sein. Klimafragen werden weiter an Gewicht gewinnen, das wissen wir mit wissenschaftlicher Sicherheit. Die Fähigkeit, Emissionen zu reduzieren, wird in Zukunft nicht nur eine Voraussetzung für die „license to operate“ sein. Sie wird auch ein Faktor der Wettbewerbsfähigkeit werden. Aber auch soziale Fragen der Digitalisierung, einschließlich der Arbeitsgestaltung und Weiterbildung, sowie gesellschaftliche Fragen, wie die Zukunft der Arbeit, werden neue Herausforderungen darstellen. Auch wird Nachhaltigkeit weiter in die Finanzanalyse integriert werden, größtenteils dank des Fortschritts der Technologie. Für Unternehmen wird es wichtig werden, eigene Daten zu erheben und mit innovativen Plattformen zu verarbeiten. Da die Finanzwelt jetzt die materielle Relevanz der Nachhaltigkeit erkennt, wird es für Unternehmen immer wichtiger werden, Daten selbst zu verwalten, anstatt dies Dritten zu überlassen.

V Was fordert ein „Responsible Leadership“ künftig von Unternehmen und Führungskräften?

Unternehmen und Führungskräfte müssen „ungeduldig“ sein. Sie müssen bereit sein, etablierte Strukturen von innen heraus zu erneuern – mit einem tiefen Verständnis für die Stärken und Schwächen des Unternehmens sowie einer klaren Perspektive für die Zukunft, basierend auf dem besten Verständnis für die sich immer schneller verändernden Rahmenbedingungen. Den Wandel von innen heraus mit einem klaren Blick nach außen und nach vorne voranzutreiben, ist keine einfache Aufgabe. Das erfordert, mit völliger Hingabe als unermüdlicher Treiber zu agieren. Dr. Herbert Diess, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, und Mark Schneider, CEO von Nestlé, fallen zum Beispiel in diese Kategorie. Zwei weitere Eigenschaften sind wichtig. Erstens: Eine Grundvoraussetzung für Erfolg ist, das ganze Potential der Mitarbeiter mobilisieren zu können. Dafür braucht es starke Teamfähigkeit und motivierte Mitarbeiter. Ein CEO ist ja nur der Dirigent, die Musik macht das Orchester. Um das zu erreichen, braucht es ein gutes Maß an Verständnis für menschliche Werte und die Fähigkeit, zu gemeinschaftlichem, zielorientiertem Handeln zu motivieren und zu inspirieren. Diese „moralischen“ Führungsqualitäten werden immer wichtiger für zukunftsorientierte Wertschöpfung. Zweitens: Ein CEO muss Technologietrends und deren Einfluss auf Märkte verstehen und bereit sein, die Digitalisierung als Kernthema des Wandels zu erkennen. Wir erleben im Moment eine große Transformation, weg vom Industriezeitalter und der Prämisse von „Scale und Scope“ hin zu einer automatisierten und digitalisierten Zukunft, in der Plattformdenken und datengesteuerte Wirtschaftsmodelle immer wichtiger werden.

V Sie sind auf der Responsible Leadership Conference für Ihr langjähriges Vordenken in Sachen CSR mit dem „Lifetime Achievement CSR Award“ ausgezeichnet worden. Was bedeuten Ihnen solche Würdigungen?

Ich versuche, Eitelkeit mit Bescheidenheit zu überwinden. Ich komme aus sehr bescheidenen Verhältnissen und habe in meinen Wanderjahren viel Elend auf der Welt gesehen. Ich hatte mehrere schwere Malariaerkrankungen und habe einen Bürgerkrieg erlebt sowie als Kind den Schmerz des Verlustes der Eltern. Zu Hause in New York habe ich eine ganze Rumpelkammer voll mit internationalen Auszeichnungen. Da schaue ich nie rein und habe mir auch fest vorgenommen, das nie zu tun, solange ich lebe – das ist alles Schall und Rauch. Die nun von der F.A.Z. zusammen mit der Humboldt-Universität zu Berlin verliehene Auszeichnung bedeutet mir jedoch viel. Da ich seit 1982 im Ausland lebe, symbolisiert sie eine Art von Heimkehr.